
Zwischen 1922 und 1953 schrieben die Chief-Modelle der ersten Generation eines der wichtigsten Kapitel der Geschichte von Indian. Wir blicken zurück auf drei Jahrzehnte im Zeichen der legendären Big Twins, die die aktuelle Indian Motorcycle Company 2014 wieder auferstehen ließ.
Während der ersten 52 Jahre des Bestehens von Indian erreichten viele der Modelle Kultstatus, aber die zwei Maschinen Scout und Chief verdienen dieses Attribut ganz besonders, da sie einen bleibenden Eindruck im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben. Heute verhält es sich ähnlich. Die Scout erschien 1920 und sollte die Produktpalette modernisieren, wenngleich die 1916 eingeführte Powerplus, die während des Ersten Weltkriegs in hohen Stückzahlen gefertigt wurde, noch eine Weile lang zum Produktrepertoire gehörte. Die Scout erwies sich trotz ihrer relativ bescheidenen 600 ccm Leistung als hervorragendes Motorrad, sodass ab 1922 ebenfalls eine Chief-Version mit 1000 ccm angeboten wurde. Die neue Chief wurde am 5. September 1921 offiziell vorgestellt und ihr Erfolg stellte sich augenblicklich ein. Wieder einmal war es dem irischen Ingenieur Charles B. Franklin gelungen, mit seiner Seitenventilsteuerung und den zwei Nockenwellen Wunder zu vollbringen. Der schräg verzahnte Primärantrieb mit Ölbadkupplung verband den 42-Grad-Zweizylindermotor mit dem fest am Motor verblockten Dreiganggetriebe. Die Antriebseinheit selbst war im doppelten unteren Gestell des großzügig proportionierten, robusten Rahmens verschraubt. Zwar war die Powerplus mit einer Blattfederaufhängung des Fahrgestells ihrer Zeit zweifellos voraus, jedoch gab es Abstriche bei der Eleganz und die Aufhängung führte tendenziell zu Kettenbrüchen. Mit der Rückkehr zu einer starren Hinterradaufhängung setzte Indian auf ein harmonischeres Design, das dank Sattelfedern und Blattfedergabel für Komfort sorgte. Bis 1926 hatte die Chief „Blindzylinder“, d. h., dass die Zylinderköpfe nicht abgenommen werden konnten. Stattdessen erfolgte der Zugang zu den Ventilen über abnehmbare Schraubdeckel, wovon in zwei ebenfalls die Gewindeseite der Zündkerzen angebracht war. Eine Zeitlang koexistierten die 1922er Chief und die Powerplus, die jedoch in „Standard“ umbenannt wurde, um nicht den Anschein zu erwecken, dass die neue Chief über weniger Leistung verfügte als die bekannte Powerplus des Motorradbauers aus Springfield. Nachdem 1921 eine Modellvariante der Standard mit 1189 ccm herausgebracht wurde, ist das Modell 1924 schließlich eingestellt worden, während in der Chief-Palette zusätzlich zum Originalmodell mit 1000 ccm ein Modell mit 1206 ccm auf den Markt kam. Dank intensiver Markenpromotion erfreute sich die Scout weiterhin großer Beliebtheit. Das Bike mit 600 ccm Hubraum sollte jüngere Kundschaft anlocken, die später auf die Big Twins umsteigen würde.
Diese Vermarktungsstrategie wurde 1925 mit der Ankunft der Einzylindermaschine Prince mit 350 ccm weiter verstärkt. Der Marke zu einem ausgezeichneten Ruf verholfen haben jedoch die größeren Chief-Modelle, insbesondere die Big Chief, denn diese Bikes waren echte Zugpferde, konnten jede Last transportieren und wurden häufig in Gespannen eingesetzt. Außerdem verfügte die unter dem Namen „Wigwam“ bekannte Motorradfabrik über eine spezielle Abteilung, die auf Anfrage von Kunden den Motoren des Herstellers noch mehr Leistungsstärke verlieh. Diese sog. „B-Motors“ wurden von engagierten Technikern zusammengebaut und es entstanden limitierte Kleinserien von Superbikes auf Basis der Chief und der Scout. An diesen Daytonas, Savannahs und Bonnevilles wurde alles optimiert, was möglich war, von größeren Vergasern über Aluminiumkolben, hocheffizienten Nockenwellen bis hin zu mehr Spiel bei den beweglichen Komponenten, um ein Festsetzen der Maschinen zu vermeiden. Jedoch ruhten sich die Chefingenieure dann erst einmal vier Jahre auf ihren Lorbeeren aus, bis 1926 die nächsten grundlegenden Mechanikneuerungen an den Serienmodellen vorgenommen wurden. Die Neurungen betrafen überwiegend die Pleuelstange, während die äußere Erscheinung der Bikes unverändert blieb. Nach diesen internen Optimierungen wandten sich die Designer erneut von der Indian Big Twin ab und widmeten sich der Scout sowie einer weiteren Neuheit, nämlich der großartigen Vierzylindermaschine, die Indian kurze Zeit zuvor durch den Aufkauf der Marke Ace übernommen hatte. Die V-Twin wurde 1928 noch weiter optimiert. Es war auch das Jahr, in dem die US-amerikanischen Motorradhersteller zeitgleich Vorderradbremsen einführten. Im März 1930 übernahm E. Paul du Pont den Vorsitz von Indian, was das Unternehmen neu beflügelte, denn der neue Vorsitzende war nicht nur bloß der Firmenchef, sondern selbst ein begeisterter Motorradfan. Von nun an änderte sich der Look der Chief, dessen alter Tank am Rohrrahmen, der seit über 20 Jahren Verwendung fand, durch einen neuen mit anmutig geschwungener Form an derselben Stelle ersetzt wurde. Beim Modell des nachfolgenden Jahres setzte man noch auf den Restbestand der dickwandigen Aluminiumtanks, wonach diese durch eine klassischere Pressblechversion abgelöst wurden.
Dank technischer Weiterentwicklung wurden die Chief-Modelle immer robuster und auch attraktiver. Die Hupe mit „Indianerkopf“ ist eine der schönsten jemals von Indian hergestellten Komponenten, ebenso wie die zweifarbige Lackierung, die für ein herausragendes Erscheinungsbild sorgt. Im Jahr 1940 gab es keine größeren, technischen Fortschritte, aber die Bikes erhielten große, geschwungene Kotflügel, die das Design der Autos der damaligen Zeit nachahmten. Während einige Biker diesen Facelift für Zeitverschwendung hielten, war die große Mehrheit jedoch begeistert davon. Die großartige Karosserie wurde von einem Gleitrahmen sowie Zylinderköpfen mit sportlich eleganten Lamellen mit Profil ergänzt. Leider tobte in Europa der Krieg und nachdem die französische Armee fünf Tausend Militärversionen der Chief CAV (Continental Army Vehicles) geordert hatte, konnten die amerikanischen Händler zunächst keine Bikes mehr anbieten. Als ob dies nicht schon genug wäre, ging die Hälfte der wertvollen Frachtsendung nach einem Torpedoangriff im Atlantik verloren und viele der CAV, die Frankreich erreichten, wurden vom Feind beschlagnahmt. Die Jahre 1944 und 1945 markierten für den Hersteller aus Springfield einen finanziellen Tiefpunkt, aber 1946 wagte Indian bereits einen Neuanfang und brachte seine neue Generation der Chief 1200 für den zivilen Motorradmarkt heraus. Mit ihr lebten die teilabgedeckten Räder („skirted fenders“) und die vom Modells 841, einer kleinen V-Twin-Serie mit Kardanantrieb, übernommene Parallelogramm-Gabel wieder auf. Die zwischen 1946 und 1948 produzierten Chief-Motorräder sind zweifellos die markantesten Modelle der Marke, doch leider kaschiert ihr außergewöhnliches Design fehlende technische Entwicklungen im Vergleich zur Konkurrenz. Seitenventilmotoren und Drei-Gang-Schaltgetriebe mochten sich zwar als unzerstörbar erweisen, doch sie waren bereits technisch veraltet. Der CEO Ralph B. Rogers zog es vor, sich auf die neuen Modelle Indian Arrow und Scout zu fokussieren, die als Konkurrenzprodukte zu britischen Bikes bestimmt waren, wonach in der Folge 1949 überhaupt keine Chiefs hergestellt wurden. Im Folgejahr 1950 erlebten die Chiefs ein kurzes Comeback, wobei die letzten Modelle eine hydraulische Teleskopgabel und eine Hubraumvergrößerung auf 1.300 ccm erhielten. Doch die Produktion brach ein und diese letzte Anstrengung konnte Indian nicht vor dem Bankrott im Jahr 1953 bewahren. Es sollten weitere 60 Jahre vergehen, bis die eleganten Linien der Chief wiederauftauchen sollten und jetzt wird ihr Erfolg mit dem Motor Thunder Stroke 111 definitiv von Dauer sein.

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